Pressemitteilung

Neandertaler jagten Waldelefanten

Erster Beweis für Elefantenjagd durch den frühen Menschen

Mainz/Halle. Untersuchung von Funden in Neumark-Nord bei Halle erbringen ersten eindeutigen Beweis für Jagd von Elefanten in menschlicher Evolution und neue Erkenntnisse über Lebensweise der Neandertaler.

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 Die Erstautorin Prof. Dr. Sabine Gaudzinski-Windheuser neben der lebensgroßen Rekonstruktion eines erwachsenen männlichen Europäischen Waldelefanten im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle

Die Erstautorin Prof. Dr. Sabine Gaudzinski-Windheuser neben der lebensgroßen Rekonstruktion eines erwachsenen männlichen Europäischen Waldelefanten (Palaeoloxodon antiquus) im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle
© LEIZA / Lutz Kindler

Neandertaler machten vor rund 125.000 Jahren gezielt Jagd auf Europäische Waldelefanten, um sich von ihrem Fleisch und Fettpolstern zu ernähren. Dies berichtet ein Forschungsteam der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), des Leibniz-Zentrums für Archäologie in Mainz (LEIZA) und der Universität Leiden in den Niederlanden. Der mittlerweile ausgestorbene Europäische Waldelefant war mit einer Schulterhöhe von bis zu 4 Metern und einem Gewicht bis zu 13 Tonnen damals das größte an Land lebende Tier. Besonders auffallend waren die langen, geraden Stoßzähne von Palaeoloxodon antiquus, so der wissenschaftliche Name des Giganten. Bislang war nicht bekannt, ob frühe Menschen tatsächlich Elefanten jagten oder aber sich gelegentlich von den Tieren ernährten, die eines natürlichen Todes gestorben waren. Für die archäozoologische Untersuchung nutzte das Forschungsteam die weltweit größte Ansammlung Europäischer Waldelefanten am Fundort Neumark-Nord bei Halle. Die Forschungsarbeit wurde nun im Wissenschaftsmagazin Science Advances veröffentlicht. Die Neandertaler lebten demnach zumindest zeitweilig in wesentlich größeren sozialen Einheiten zusammen als gemeinhin angenommen.

Waldelefanten von Neumark-Nord zeigen seltsames Muster

Der Europäische Waldelefant besiedelte im Zeitraum von vor 800.000 bis vor 100.000 Jahren die Landschaften Europas und Westasiens. Er war das größte Landsäugetier des Pleistozäns, also der letzten drei Millionen Jahre, und nicht nur deutlich größer als der heutige Afrikanische Elefant und der Asiatische Elefant, sondern auch als das ebenfalls ausgestorbene Wollhaarmammut. Die Überreste von mindestens 70 dieser Waldelefanten wurden in den 1980er- und 1990er-Jahren bei Abbauarbeiten in einer riesigen Braunkohlegrube bei Halle entdeckt. Sie hatten sich in den feinkörnigen Seesedimenten während 125.000 Jahren bis heute gut erhalten.

Vor etwa 15 Jahren hat ein Team italienischer Paläontologen das reichhaltige Elefantenmaterial vom Fundort Neumark-Nord untersucht. Es kam zu dem Schluss, dass es sich um eine merkwürdige Ansammlung handelt mit einem unausgewogenen Sterblichkeitsprofil – nämlich fast nur erwachsene Individuen – und einer auffälligen Dominanz männlicher Tiere. Dieses Muster wurde bisher weder bei fossilen noch bei heutigen Elefantenpopulationen beobachtet und war schwer zu erklären. Als Archäologin Prof. Dr. Sabine Gaudzinski-Windheuser Anfang 2021 einige Elefantenknochen erstmals untersuchte, fand sie Hinweise auf die Ursache der Besonderheiten: menschliche Aktivität. "Die Entdeckung von eindeutigen Schnittspuren gab den Anstoß zu einer intensiven Untersuchung der Elefantenüberreste", so Sabine Gaudzinski-Windheuser, Professorin für Pleistozäne Archäologie an der JGU und Leiterin des archäologischen Forschungszentrums und Museums für menschliche Verhaltensevolution MONREPOS, einer Einrichtung des LEIZA.

Angesichts der Einzigartigkeit des Materials und der möglichen Auswirkungen der Studie beschloss das Forschungsteam aus Mainz und Leiden, die gesamte Sammlung mit Tausenden von Knochen und Knochenfragmenten zu analysieren. Dies stellte sich als sehr zeitaufwändiges Unterfangen heraus: Monatelang wurden große Kisten geöffnet, in denen das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle die einzelnen Elefanten lagert, die großen und schweren Knochen mussten angehoben und gedreht werden, um ihre Oberfläche zu untersuchen, jedes einzelne Knochenstück wurde identifiziert und etwaige Veränderungen wurden dokumentiert. "Insgesamt haben wir auf diese Weise 3.122 Überreste von den Europäischen Waldelefanten in Neumark-Nord analysiert", beschreibt Dr. Lutz Kindler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Archäologie, das Vorgehen.

Jagd auf die Rüsseltiere sicherte Lebensgrundlage

Die detaillierte archäologische Analyse konzentrierte sich auf die Verteilung von Schnittspuren an den Skelettresten. Sie ergab, dass die Jagd auf die eiszeitlichen Riesen an diesem Ort dazu beitrug, die Existenz der Neandertaler zu sichern – und zwar mindestens 2.000 Jahre lang, also über Dutzende von Generationen hinweg. "Dies ist der erste eindeutige Beweis für die Elefantenjagd in der menschlichen Evolution", sagt Prof. Dr. Wil Roebroeks von der Universität Leiden zu den Ergebnissen. Erwachsene und alte Elefantenmännchen, die viel größer sind als die Weibchen, kommen unter den Funden überdurchschnittlich häufig vor, wahrscheinlich weil erwachsene männliche Tiere für sich blieben. Ohne den Schutz durch eine Herde konnten sich die Jäger den Tieren einfacher nähern. Weil sie außerdem viel größer waren als die Weibchen, dürfte die Jagd auf sie einen viel höheren Ertrag gebracht haben bei gleichzeitig geringerem Risiko.

Neandertaler kooperierten vermutlich in größeren Gruppen

Die Jagd auf die großen Tiere erforderte eine enge Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Gruppenmitgliedern, ebenso wie die Verarbeitung der Beute. Die Tiere mussten geschlachtet werden, Fleischreste waren von den langen Knochen abzulösen und die fettreichen Fußpolster zu entfernen. Zur Verarbeitung gehörte möglicherweise auch das Trocknen der Produkte für die Langzeitlagerung.

Die Autoren haben berechnet, dass ein zehn Tonnen schwerer Elefant – und damit nicht einmal der größte in Neumark-Nord – mindestens 2.500 Portionen für erwachsene Neandertaler zu jeweils 4.000 Kilokalorien geliefert haben dürfte, bestehend aus einer nahrhaften Mischung aus Eiweiß und Fett. Diese Zahlen sind wichtig: Bislang wurde angenommen, dass sich Neandertaler in Gruppen von höchstens 25 Individuen zusammenfanden. Nach Einschätzung des Forschungsteams zeigt die neue Studie, dass die Neandertaler zumindest zeitweise in viel größeren Gemeinschaften zusammenkamen oder dass sie über kulturelle Mittel zur Konservierung und Lagerung von Nahrungsmitteln in großem Maßstab verfügten – oder beides. In jedem Fall handelt es sich den Autoren zufolge um wichtige Erkenntnisse, die wesentlich zu unserem Verständnis der Variationsbreite des Neandertalerverhaltens beitragen.

Fundstelle Neumark-Nord: Eine gut erhaltene archäologische Landschaft

Der Fundstellenkomplex Neumark-Nord wurde in den 1980er-Jahren vom Archäologen Prof. Dr. Dietrich Mania entdeckt, der eine Reihe von Rettungsgrabungen in dem großen Braunkohletagebau leitete. Mania, ehemals Professor an der Universität Jena, initiierte eine langfristige interdisziplinäre Untersuchung der Stätte. Daran waren von 2004 bis 2008 auch die jetzigen Kooperationspartner der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, der Universität Leiden und des Leibniz-Zentrums für Archäologie mit Ausgrabungen beteiligt. Neumark-Nord gehört mit einer Gesamtgröße von etwa 30 Hektar zu den größten pleistozänen archäologischen Fundkomplexen und zeichnet sich durch die außergewöhnliche Erhaltung von Flora und Fauna der letzten Warmzeit aus.

Die laufenden Arbeiten des Teams aus Mainz und Leiden umfassen eine umfangreiche Neuanalyse der in den 1980er- und 1990er-Jahren ausgegrabenen reichen Bestände. Dies hat zum Beispiel Beweise für die Hirschjagd der Neandertaler erbracht, wobei die bislang frühesten Jagdverletzungen an Knochen gefunden wurden. Im Jahr 2021 veröffentlichte die Gruppe Daten, die zeigen, dass die Neandertaler ihre Umwelt sichtbar beeinflusst haben: Mit ihrer Ankunft ging die Bewaldung zurück und die Vegetation blieb während der rund 2.000 Jahre ihrer Anwesenheit geöffnet. Damit verbunden war die ausgiebige Nutzung von Feuer. Dies ist bislang der früheste eindeutige Fall einer Landschaftsveränderung in der menschlichen Evolution.

Veröffentlichung

S. Gaudzinski-Windheuser et al., Hunting and processing of straight-tusked elephants, 125,000 years ago: Implications for Neanderthal behavior, Science Advances 9: 5, 1. Februar 2023,
DOI: 10.1126/sciadv.add8186

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Das LEIZA erforscht als Leibniz-Forschungsinstitut und -museum für Archäologie die materiellen Hinterlassenschaften aus 3 Mio. Jahren Menschheitsgeschichte. Ziel ist es, anhand archäologischer Funde und Befunde menschliches Verhalten und Handeln, menschliches Wirken und Denken sowie die Entwicklung und Veränderung von Gesellschaften aufzuzeigen und zu verstehen. Als eines von acht Forschungsmuseen der Leibniz-Gemeinschaft verbindet das LEIZA exzellente Wissenschaft mit Ausstellungen und ist mit seinem Bildungsauftrag gleichzeitig ein Ort des Dialoges mit der Öffentlichkeit. Das LEIZA ist weltweit tätig und betreibt bislang erfolgreich und umfassend Forschungen in verschiedenen Regionen Afrikas, Asiens und Europas. Die einzigartige Konzentration archäologischer, naturwissenschaftlicher, restauratorischer und informationstechnologischer Kompetenzen verbunden mit bedeutenden Werkstätten, Laboren und Archiven, erlaubt es dabei, objektorientierte Forschung zur Archäologie der Alten Welt (Asien, Afrika, Europa) von den Anfängen der Menschheitsgeschichte bis in die Neuzeit zu betreiben.

Das LEIZA war bis zur Umbenennung zum 1. Januar 2023 international bekannt als Römisch-Germanische Zentralmuseum (RGZM) und wurde im Jahr 1852 auf Beschluss der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine in Mainz gegründet. www.leiza.de
 

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Dr. Lutz Kindler
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