Pressemitteilung

Knochensplitter im Inneren eines 800 Jahre alten Schmuckstücks entdeckt

Neutronen ermöglichen Blick in Anhänger aus dem Mittelalter

München/Mainz. Ein interdisziplinäres Forschungsteam unter Leitung des Leibniz-Zentrums für Archäologie (LEIZA) hat das Geheimnis eines vergoldeten Anhängers gelüftet, der 2008 in einer mittelalterlichen Abfallgrube in der Mainzer Altstadt gefunden wurde. Dank zerstörungsfreien Untersuchungen an der Forschungs-Neutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz (FRM II) der Technischen Universität München (TUM) konnten die Forschenden im Inneren des Objekts kleinste Knochensplitter lokalisieren, bei denen es sich vermutlich um Reliquien handelt.

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 Die Neutronentomografie zeigt das Innere des Reliquienanhängers

Die Neutronentomografie zeigt das Innere des Reliquienanhängers. Darin sind fünf Reliquienpäckchen zu erkennen.
© Burkhard Schillinger, Heinz Maier Leibnitz Zentrum (MLZ)

Fünf einzelne Päckchen aus Seide und Leinen kamen bei der Auswertung der Tomografien und der Prompten-Gamma-Aktivierungsanalyse (PGAA) mit Neutronen zum Vorschein – darin waren jeweils Knochensplitter verpackt. „Die zerstörungsfreie Untersuchung mit Neutronen war besonders hilfreich, da wir den Anhänger nicht einfach öffnen und hineinsehen konnten. Durch die jahrhundertelange Korrosion ist das Objekt und vor allem der Schließmechanismus stark beschädigt, und es zu öffnen würde bedeuten, es unwiderruflich zu zerstören“, erklärt der Restaurator Matthias Heinzel vom LEIZA.

Während der Restaurierung entdeckte Heinzel in der Aufhängungsöse ein Kordelfragment, das nach näherer Untersuchung als Seide identifiziert werden konnte. „Dies ist der erste Nachweis, dass solche Anhänger womöglich an einer Seidenkordel um den Hals getragen wurden. Durch die Neutronentomografie an der TUM konnten wir zusätzlich die Fadenstärke und den Fadenabstand der Textilien im Inneren vermessen“, ergänzt der Restaurator.

Neutronenanalyse macht organische Substanzen sichtbar

In 500 Stunden Arbeit befreite Heinzel das Fundstück von Korrosionsauflagerungen. Erste Untersuchungen ergaben, dass es sich bei dem etwa sechs Zentimeter hohen und breiten, sowie ein Zentimeter dicken Anhänger, vermutlich um einen Aufbewahrungsbehälter für Reliquien handelte. Da auf den ersten Röntgenaufnahmen der organische Inhalt des Objekts nicht erkennbar war, kam die Untersuchung mittels Neutronen des FRM II zum Einsatz: Dr. Burkhard Schillinger von der TUM führte am Instrument ANTARES eine Neutronentomographie durch, die die einzelnen Textilpäckchen mit den Knochensplittern im Inneren sichtbar machte. Anders als Röntgenstrahlen können die Neutronen Metalle durchdringen und dabei organische Substanzen sichtbar machen.

„Ob es sich um Knochen von Heiligen handelt und welchen Heiligen die Knochensplitter zugeordnet werden können, lässt sich nicht herausfinden. Meist ist Reliquienpäckchen ein Pergamentstreifen beigefügt, auf dem der Name des Heiligen steht. In diesem Fall können wir es aber leider nicht sehen. Als archäologisches Forschungsinstitut der Leibniz-Gemeinschaft sehen wir es als unsere Aufgabe, das Objekt in seiner historischen Authentizität bestmöglich für die Nachwelt zu erhalten und nutzen die modernen Möglichkeiten einer zerstörungsfreien Untersuchung an der Technischen Universität München“, erklärt Heinzel.

Nur drei andere Reliquiare dieser Art, genannt Phylakterium, sind bisher bekannt. Phylakterium übersetzt sich aus dem Griechischen mit Verwahrungs- oder Schutzmittel. Ihre Besitzer trugen sie am Körper, meist um den Hals. Außen ist der vergoldete Anhänger aus Kupfer mit Bildern von Jesus, den vier Evangelisten, Maria und vier weiblichen Heiligen emailliert. Die Forschenden datieren ihn auf das späte 12. Jahrhundert und ordnen ihn einer Werkstatt in Hildesheim, Niedersachsen, zu. Das Fundstück befindet sich im Besitz der Generaldirektion kulturelles Erbe, Direktion Landesarchäologie Mainz und kann bis auf Weiteres in der Mittelalter-Ausstellung „AUREA MAGONTIA – Mainz im Mittelalter" des Landesmuseum Mainz besichtigt werden.

Mehr Informationen

Neben dem Leibniz-Zentrum für Archäologie und dem Heinz Maier-Leibnitz Zentrum an der Technischen Universität München waren auch Forschende des Instituts für Nuklearphysik der Universität Köln und des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft e.V. beteiligt.

Hochauflösende Bilder

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Publikation

Matthias Heinzel, Eschly Kluge, Dorothee Kemper, Burkhard Schillinger, Christian Stieghorst: Discovery of a 12th-Century Enamelled Reliquary Pendant: Elemental Analysis and Content Visualisation Using Prompt Gamma Neutron Activation Analysis and Neutron Tomography
METAL2022 – Proceedings of the interim meeting of the ICOM-CC METALS working group ISBN: 978-2-491997-61-8

Interim meeting of the ICOM-CC METALS working group, Helsinki, Finland, 5 Sep 2022 - 9 Sep 2022 184-191 (2022)
 

Leibniz-Zentrum für Archäologie (LEIZA)

Das LEIZA erforscht als Leibniz-Forschungsinstitut und -museum für Archäologie die materiellen Hinterlassenschaften aus 3 Mio. Jahren Menschheitsgeschichte. Ziel ist es, anhand archäologischer Funde und Befunde menschliches Verhalten und Handeln, menschliches Wirken und Denken sowie die Entwicklung und Veränderung von Gesellschaften aufzuzeigen und zu verstehen. Als eines von acht Forschungsmuseen der Leibniz-Gemeinschaft verbindet das LEIZA exzellente Wissenschaft mit Ausstellungen und ist mit seinem Bildungsauftrag gleichzeitig ein Ort des Dialoges mit der Öffentlichkeit. Das LEIZA ist weltweit tätig und betreibt bislang erfolgreich und umfassend Forschungen in verschiedenen Regionen Afrikas, Asiens und Europas. Die einzigartige Konzentration archäologischer, naturwissenschaftlicher, restauratorischer und informationstechnologischer Kompetenzen verbunden mit bedeutenden Werkstätten, Laboren und Archiven, erlaubt es dabei, objektorientierte Forschung zur Archäologie der Alten Welt (Asien, Afrika, Europa) von den Anfängen der Menschheitsgeschichte bis in die Neuzeit zu betreiben.

Das LEIZA war bis zur Umbenennung zum 1. Januar 2023 international bekannt als Römisch-Germanische Zentralmuseum (RGZM) und wurde im Jahr 1852 auf Beschluss der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine in Mainz gegründet. www.leiza.de

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Die Technische Universität München (TUM) ist mit mehr als 600 Professorinnen und Professoren, 50.000 Studierenden sowie 11.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine der forschungsstärksten Technischen Universitäten Europas. Ihre Schwerpunkte sind die Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften, Lebenswissenschaften und Medizin, verknüpft mit den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Die TUM handelt als unternehmerische Universität, die Talente fördert und Mehrwert für die Gesellschaft schafft. Dabei profitiert sie von starken Partnern in Wissenschaft und Wirtschaft. Weltweit ist sie mit dem Campus TUM Asia in Singapur sowie Verbindungsbüros in Brüssel, Mumbai, Peking, San Francisco und São Paulo vertreten. An der TUM haben Nobelpreisträger und Erfinder wie Rudolf Diesel, Carl von Linde und Rudolf Mößbauer geforscht. 2006, 2012 und 2019 wurde sie als Exzellenzuniversität ausgezeichnet. In internationalen Rankings gehört sie regelmäßig zu den besten Universitäten Deutschlands. www.tum.de

Das Heinz Maier-Leibnitz Zentrum (MLZ) in Garching bei München ist ein weltweit führendes Zentrum für Spitzenforschung mit Neutronen und Positronen. Als Serviceeinrichtung für Gastwissenschaftler:innen stellt das MLZ einzigartige, leistungsfähige wissenschaftliche Instrumente im Bereich der Neutronenforschung zur Verfügung. Das MLZ ist eine Kooperation der Technischen Universität München (TUM), des Forschungszentrums Jülich und des Helmholtz-Zentrums hereon. Es wird gemeinsam finanziert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst sowie Partner der Kooperation. Die Forschenden nutzen die Neutronen und Positronen der TUM-Forschungs-Neutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz (FRM II).

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Leibniz-Zentrum für Archäologie (LEIZA)
Ludwig-Lindenschmit-Forum 1
55116 Mainz

Ebru Esmen M.A.
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Ludwig-Lindenschmit-Forum 1
55116 Mainz

Matthias Heinzel
Restaurator | Edelmetall- und Goldschmiedewerkstatt

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Dr. Burkhard Schillinger (TUM) an der Tomografieanlage ANTARES, an der die Reliquien mit Neutronen sichtbar gemacht wurden.
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  • © FRM II / TUM / Bernhard Ludewig
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Zwei Forschende an der Prompten Gamma Aktivierungsanalyse
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  • Dr. Christian Stieghorst (r.) mit Dr. Zsolt Revay an der Prompten Gamma Aktivierungsanalyse (PGAA) ...
  • © TUM / Wenzel Schürmann
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Das restaurierte Reliquiar
Das Reliquiar in der Vitrine
Restaurator Matthias Heizel am Arbeitsplatz

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